»Der aktuelle Antisemitismus ist ein importierter!«
In Deutschland will heutzutage so gut wie niemand mehr Antisemit sein, sieht man von Neonazis einmal ab. Dennoch konnten wissenschaftliche Studien über judenfeindliche Einstellungen unter deutschen Staatsbürger*innen wiederholt zeigen, dass hier dauerhaft etwa zehn bis zwanzig Prozent traditionellen antisemitischen Aussagen zustimmen – etwa, dass Jüdinnen*Juden über zu viel Einfluss verfügen oder reicher seien als Deutsche. Und bis zu vierzig Prozent stimmen codierten Formen des Antisemitismus zu, die als Abwehr gegen ein Schuldgefühl für die Shoah dienen oder Israel als jüdischen Staat angreifen 1.
Keine gesellschaftliche Gruppe ist vor Antisemitismus gefeit, unabhängig von Herkunft, Einkommen, Bildungsgrad oder anderen Faktoren. Und: Antisemitismus ist ein Evergreen in Deutschland – seine Geschichte reicht jahrhunderteweit vor den ersten Weltkrieg zurück, als Jüdinnen*Juden in Deutschland zwar schon gleichberechtigt, aber dennoch stark betroffen von antisemitischer Diskriminierung waren. Sogar das Wort Antisemitismus wurde als Eigenbezeichnung von deutschen Antisemiten erfunden!
Dass Antisemitismus kein »importiertes Problem« ist, sollte allein durch seine lange Kontinuität klar sein, die sich bis weit vor den größeren Migrationsbewegungen nach Deutschland nachweisen lässt. Trotzdem sprechen besonders Rechte und Konservative immer wieder von Antisemitismus, der vor allem von arabischstämmigen oder muslimischen Personen »eingeschleppt« worden sei. Damit verfolgen sie die Strategie, Antisemitismusvorwürfe von sich selbst abzuweisen, und benennen im gleichen Atemzug jene, die sie als schuldig markieren wollen. Antisemitismus gibt es immer nur bei »den Anderen« Verbreitet wird so Rassismus.
Rechte Solidarisierungen mit Israel oder Jüdinnen*Juden dienen in der Regel nicht zur Bekundung ehrlichen Interesses am Schutz jüdischer Kultur und jüdischen Lebens, wie beispielsweise antisemitische Erzählungen über »die globalisierte Finanzelite« deutlich machen. Stattdessen werden sie als Stimmungsmacher gegen die Immigration von insbesondere arabischen oder muslimischen Menschen eingesetzt, die häufig nebenbei als Unterstützer*innen von Islamismus abgeurteilt werden.
Tatsächlich könnte man den israelbezogenen Antisemitismus, der sich teilweise auch in arabisch geprägten Gruppen wiederfindet, eher als »exportierten« Antisemitismus bezeichnen. Während des Zweiten Weltkrieges sendeten die Nationalsozialisten gemeinsam mit Verbündeten aus dem Nahen Osten ihre Ideologie – direkt aus dem Deutschen übersetzt – per Radio in die arabische Welt. So wollten sie einen globalen Judenhass schüren und neue Allianzen in ihrem Vernichtungswahn gegen Jüdinnen*Juden eingehen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Judenhass eine lange Geschichte im Islamismus hat und Jüdinnen*Juden jahrhundertelang in arabischen Ländern verfolgt wurden 2. Eine Kritik des islamistischen Antisemitismus muss sachlich und konkret argumentieren. Der Topos des »importierten Antisemitismus« verbreitet dagegen Rassismus.
Zick, A., B. Küpper, N. Mokros (2023): Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/2023. Friedrich-Ebert-Stiftung
↩Amadeu Antonio Stiftung (2024): Antisemitische Allianzen nach dem 7. Oktober: Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus #13. Berlin
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