Ohne Israel gäbe es keinen Antisemitismus!

»Ohne Israel gäbe es keinen Antisemitismus!«

Immer wieder liest man dieses Argument: Nichts befeuere den modernen Antisemitismus mehr als der Staat Israel selbst. Würde dieser seine Politik ändern, dann würde auch der Antisemitismus weniger werden. Dabei handelt es sich um eine perfide Täter-Opfer-Umkehr. Schuld am Antisemitismus sind plötzlich nicht mehr die Antisemiten, sondern Jüdinnen*Juden selbst – oder eben der jüdische Staat Israel. Die nicht-jüdische Welt reagiere sozusagen nur. Das ist Unfug.

Jetzt mal in Ruhe…

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Der Antisemitismus im ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina ist deutlich älter, als der jüdische Staat selbst. Allein die Anwesenheit von Jüdinnen*Juden war schon Jahrzehnte vor der Staatsgründung Anlass für antijüdische Gewalt – nicht nur im damaligen Mandatsgebiet, sondern auch in den benachbarten arabischen Ländern, aus denen rund 900.000 Jüdinnen*Juden ab 1948 flohen. Antisemiten haben auch schon im 19. Jahrhundert in Deutschland gegen einen jüdischen Staat argumentiert. Die Delegitimierung jüdischer Staatlichkeit ist also älter als Israel.

Gerade im Antisemitismus ist das Narrativ, dass es sich bei ihm lediglich um einen Akt der Notwehr handle, äußerst zentral. Notwehr gegen die jüdischen Brunnenvergifter. Notwehr gegen die Christusmörder. Notwehr gegen die »Rassefeinde«. Und nun eben auch: Notwehr gegen den angeblich terroristischen Judenstaat. Adorno bezeichnete diesen Umstand als »pathische Projektion«. Das Opfer wird dessen beschuldigt, was man selbst tut oder zu tun gedenkt. Schuldumkehr und Abwehraggression prägen diese Konstruktion 1.

Eine Umfrage unter EU-Bürgern ergab vor über 20 Jahren, dass Israel als größte Gefahr für den Weltfrieden gesehen wird – noch vor Nordkorea, dem Iran und anderen Menschenrechtsverletzern 2. Ganz gleich, wie man im Einzelnen zu politischen Entscheidungen der israelischen Regierung steht, wird hier mehr als deutlich, dass eine solche Dämonisierung in keinem Verhältnis zur Realität steht. Dazu passt, dass Antisemiten die Erlösung der Welt daran knüpfen, dass Jüdinnen*Juden bzw. Israel aus dieser verschwinden – zur Bewahrung des Weltfriedens.

  1. Adorno, T. W. (1973): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main

  2. Europäische Kommission (2003): Iraq and Peace in the World. Flash Eurobarometer 151. S. 78

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