»Die wahren Juden sind gegen Zionismus.«
Sowohl das Judentum als auch die israelische Gesellschaft sind genauso pluralistisch wie der Rest der Welt, es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher politischer Einstellungen und kultureller Perspektiven, keine davon ist die einzig Wahre oder Repräsentative.
Erstaunlich ist aber, mit welcher Regelmäßigkeit ausgerechnet auf Fotos zurückgegriffen wird, auf denen Mitglieder der ultraorthodoxen Splittergruppen »Neturei Karta« abgebildet sind, einer Organisation, die unter anderem an der Teheraner Holocaustleugnerkonferenz 2006 teilgenommen hatte und auch sonst äußerst zweifelhafte Positionen vertritt. Wer nun behauptet, die Vertreter dieser oder ähnlicher Gruppen seien die einzig wahren Juden, spricht im Umkehrschluss weit über 99 Prozent der Jüdinnen*Juden ihr Jüdischsein ab.
Andere ziehen jüdische Kronzeug*innen heran, um ihre schon gefestigte Überzeugung zu untermauern – als Immunisierung gegen den Vorwurf des Antisemitismus. Doch zur Wahrheit gehört, dass die allermeisten Jüdinnen*Juden weltweit Israel als Staat unterstützen – das heißt nicht, dass sie die Politik jeder israelischen Regierung gutheißen.
Laut dem Pew Research Center sehen 80 Prozent aller Jüdinnen*Juden in den USA Israel als wesentlicher oder wichtiger Teil ihrer Identität 1. Einem Beitrag des Meinungsforschungsinstituts Gallup zufolge haben 95 Prozent der Jüdinnen*Juden in den USA einen positiven Blick auf Israel 2. Und eine Umfrage der britischen Campaign Against Antisemitism identifizieren im Vereinigten Königreich 80 Prozent der Jüdinnen*Juden als zionistisch 3. Ganz zu schweigen von den sieben Millionen Jüdinnen*Juden – rund die Hälfte aller Jüdinnen*Juden –, die selbst in Israel leben.
Die Taktik, Jüdinnen*Juden ihre Identität abzusprechen, findet allerdings auch Ausdrucksformen, die eine quasi-biologistische Argumentation bedienen. Vor allem die Khasaren-Hypothese erfreut sich einer gewissen Beliebtheit, vor allem im deutsch-, aber auch im englischsprachigen, verschwörungsideologischen Milieu 4. Es existieren zwar verschiedene Varianten dieser Idee, gemein ist ihnen jedoch die Annahme, ein Teil der Jüdinnen*Juden seien ihrer Abstammung nach eigentlich gar nicht jüdisch, sondern es handle sich um Nachfahren eines kriegerischen, nomadischen Reitervolkes aus Asien, den Khasaren (auch: Chasaren). Die Khasaren hätten vor einigen Jahrhunderten mehr oder weniger geschlossen eine jüdische Identität angenommen – eine Lüge –, weil sie sich politische und wirtschaftliche Vorteile erhofften. Sowohl die »Zionisten«, als auch Jüdinnen*Juden in Machtpositionen seien die Nachfahren dieser Khasaren.
Es kursieren zahlreiche andere Spielarten, die ein ganz ähnliches Muster verfolgen. Während der Pandemie schrieb Xavier Naidoo zum Beispiel auf Telegram: »Es gibt keine Semiten oder Judäer im Zentralrat der Juden. Die sogenannten Juden sind die eigentlichen Antisemiten« 5. Alle diese Erzählungen und Behauptungen zielen darauf ab, Jüdinnen und Juden ihre Identität abzusprechen – und mit ihr auch gleich, sich zu »jüdischen« Themen kompetent äußern zu können. Es handelt sich um den vielleicht radikalsten Versuch, jemanden zum Schweigen zu bringen, da er sich auf fundamentalste Eigenschaften bezieht: »Du bist nicht, wer du vorzugeben scheinst.«
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Newport, F. (2019): American Jews, Politics and Israel. Gallup. URL: https://news.gallup.com/opinion/polling-matters/265898/american-jews-politics-israel.aspx
↩Ben-David, D. (2023): Eight Out Of Ten British Jews Identify As Zionist, Says New Poll. The Jewish Chronicle. URL: https://www.thejc.com/news/uk/eight-out-of-ten-british-jews-identify-as-zionist-says-new-poll-vu3f391c
↩Way, I. (2013): Genetik – Rheinland oder Kaukasus? Jüdische Allgemeine. URL: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/rheinland-oder-kaukasus/
↩Leber, S. (2022): Die Abscheulichkeiten des Xavier Naidoo: »Ich kann den sogenannten Juden nichts mehr glauben«. Tagesspiegel. URL: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/ich-kann-den-sogenannten-juden-nichts-mehr-glauben-4324489.html
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