Die Deutschen haben ja auch gelitten.

»Die Deutschen haben ja auch gelitten.«

Die Vorstellung, ein Großteil der Deutschen habe unter der Nazi-Herrschaft gelitten, von der Verfolgung der Jüdinnen*Juden, Gewalt und industrieller Vernichtung nichts gewusst, und auch den Krieg abgelehnt, zieht sich in unterschiedlich heftiger Ausprägung durch weite Teile der Gesellschaft. Viele Deutsche glauben, dass ihre Vorfahren nicht oder nur durch Zwang an den Gewaltexzessen des Nationalsozialismus beteiligt waren. Dagegen waren im Jahr 2020 über 32 Prozent der Befragten einer Studie der Ansicht, ihre Vorfahren hätten potenziellen Opfern geholfen, zum Beispiel indem sie sie versteckten oder ihnen zur Flucht verhalfen 1. In der Realität halfen weniger als 0,1 Prozent der Deutschen den Verfolgten. 

Viele hingegen profitierten von der sogenannten »Arisierung«, die jüdische Menschen dazu drängte, ihr Hab und Gut zu Spottpreisen an Deutsche zu verkaufen, oder von Zwangsarbeit und anderen Formen der Ausbeutung. Die Beteiligung an Boykotten jüdischer Geschäfte oder Denunziationen jüdischer Menschen passte ebenso in das nationalsozialistische Weltbild und war keinesfalls erzwungen – ein Großteil der Deutschen gehörte zu den Täter*innen oder wusste zumindest von den mehr als 1000 Konzentrationslagern, sowie mehreren Zehntausend Arbeits- und Umerziehungslagern. Woher kommt also die Idee, Deutsche seien nicht Täter, sondern Opfer gewesen?

Jetzt mal in Ruhe…

Der Antisemitismus ist nach dem Zweiten Weltkrieg nicht schlagartig aus den Köpfen verschwunden, was zum Beispiel der Begriff »Stunde Null« suggeriert, der einen Neubeginn nach dem Zusammenbruch des NS-Staates meint. Stattdessen haben sich Gedankengut und Schuldzuweisungen der Nationalsozialisten gewandelt und treten in der Nachkriegsgesellschaft in neuen Formen auf. Einige Autor*innen sprechen von einem Antisemitismus »nicht trotz, sondern wegen Auschwitz« 2. Antisemitische Ressentiments wurden nicht mehr offen zur Schau gestellt, sondern traten und treten nun verschlüsselt zutage. Eine Ausdrucksform dieses modernen Antisemitismus ist der sogenannte Schuldabwehr- oder auch Sekundäre Antisemitismus 3.

Das Prinzip ist immer gleich: Schuldabwehr durch Schuldzuweisung. Indem sich Deutsche kaum oder gar nicht an die Nazi-Verbrechen erinnern können oder mögen, wird es leichter, sich selbst und die eigenen Vorfahren als Opfer zu imaginieren 4. Die »Bösen« seien hingegen eine kleine Gruppe Nazis, die die deutsche Mehrheitsgesellschaft befehligt hätten, oder die Alliierten. Dass die meisten Deutschen Mitwisser*innen oder Täter*innen waren, kann auf diese Weise ausgeblendet werden. Diese Verdrehung historischer Tatsachen ist nicht nur falsch, sondern auch ein Versuch, das Leiden von Millionen Jüdinnen*Juden, Sinti*zze und Rom*nja, Menschen mit Behinderung, politischen Verfolgten und anderen zu relativieren. 

Der Opfermythos um Dresden, das 1945 von den Alliierten bombardiert wurde, ist ein trauriges Beispiel für diese Verzerrung. Jährlich ziehen Rechte durch die Stadt, die das Ereignis als »Bombenholocaust« bezeichnen – eine klare Umdeutung der Geschichte, die die Deutschen zu Opfern erklärt 5. Es ist heute unzweifelhaft belegt, dass die Gräuel des Nationalsozialismus nicht ohne die breite Unterstützung der Bevölkerung hätten stattfinden können. So berichten es auch Zeitzeug*innen, die von ihren Nachbar*innen, Mitschüler*innen, Kolleg*innen angefeindet oder bei der Gestapo denunziert wurden, deren Geschäfte boykottiert wurden, vor die sich niemand schützend stellte. Fakt ist: Die Mehrheit der Deutschen hat den Nationalsozialismus mitgetragen.

  1. Zick, A., J. Rees, M. Papendick, F. Wäschle (2020): Multidimensionaler Erinnerungsmonitor: Studie III. Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft.

  2. Bergmann, W., R. Erb (1995): Wie antisemitisch sind die Deutschen? Meinungsumfragen 1945 – 1994. In: W. Benz (Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland. München. S. 47 – 63

  3. Amadeu Antonio Stiftung (2023): Was ist Post-Shoah-Antisemitismus? URL: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2023/11/Post_Shoah_Antisemitismus_Flyer.pdf

  4. Bergmann, W. (2007): »Störenfriede der Erinnerung«: Zum Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland. In: K.-M. Bogdal, K. Holz, M. N. Lorenz (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart. S. 13–35

  5. Jerzak, C. (2024): Der 13. Februar 1945 im kollektiven Gedächtnis Dresdens. Bundeszentrale für politische Bildung. URL: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/518214/der-13-februar-1945-im-kollektiven-gedaechtnis-dresdens/

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