„Ich habe ja nichts gegen Juden, aber…“

»„Ich habe ja nichts gegen Juden, aber…“«

So beginnen die schönsten deutschen Märchen. Natürlich hast du nichts gegen Juden. Du bist tolerant und weltoffen. Du hast dich ausführlich mit den Verbrechen im Nationalsozialismus auseinandergesetzt und vertrittst einen vorwärtsgewandten neuen deutschen Nationalismus ohne die Verantwortung, die die Geschichte dich gelehrt hat, dabei zu vernachlässigen. Und gerade weil du als Deutscher aus der Geschichte gelernt hast, erkennst du Unrecht, wenn es geschieht, wie zum Beispiel die israelischen Angriffe auf Gaza. Deutschland hat das schon einmal durchgemacht und daraus gelernt, Israel hat diesen Lernprozess noch vor sich, sagst du. Und Israel sei ja auch gar nicht identisch mit den Juden. Du kennst sogar Juden, die so denken wie du. Du kannst also gar kein Antisemit sein. Aber die Juden, die du kennst und als Kronzeugen benutzt, sollen deinen ressentimentgeladenen Hass auf Israel verdecken. Nice try!

Antisemitismus versteckt sich heutzutage hinter genau solchen Aussagen, wie du sie äußerst. Lass dir gesagt sein, Antisemitismus beginnt nicht erst bei dem Massenmord an Juden.

Jetzt mal in Ruhe…

Wenn von Antisemitismus die Rede ist, denken viele an den Nationalsozialismus und den Versuch das Judentum zu vernichten. Diese mörderische Vernichtungsideologie sei strikt zu trennen von alltäglicher Judenfeindschaft, die oftmals als harmloses Ressentiment gegen Juden verharmlost wird. Antisemitismus ist aber primär ein Denksystem, eine Ideologie und darf nicht primär als Praxis begriffen werden, denn hinter jeder antisemitischen Handlung steht die antisemitische Ideologie.

Und diese antisemitische Ideologie ist je nach historischem Erscheinen und den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen unterschiedlich. Der Antisemitismus, wie er im Nationalsozialismus weit verbreitet war, ist heutzutage eher marginal geworden. Grund dafür ist die von Werner Bergmann und Rainer Erb beschriebene Kommunikationslatenz, die davon ausgeht, dass ein durch gesellschaftliche und politische Eliten erzeugter Druck nach 1945 in der Bundesrepublik dazu geführt hat, dass antisemitische Einstellungen öffentlich nicht geäußert wurden.1 Dennoch sind diese Einstellungen weiterhin latent vorhanden und es haben sich neue Formen der Judenfeindschaft gefunden, die allerdings bestreiten judenfeindlich zu sein. Solche Einstellungen beginnen oft mit Äußerungen wie »Ich habe ja nichts gegen Juden, aber…«.

Antisemitismus ist also kein Relikt einer vergangenen Zeit, sondern kommt heutzutage sehr modern und zeitgemäß daher. Mit Hilfe des kommunikativen Umwegs2, also der Beteuerung nicht antisemitisch zu sein, wird die Kommunikationslatenz geschickt umgangen und die immer gleichen antisemitischen Ressentiments finden sich in neuer Form als Antizionismus oder in einer revisionistischen Haltung zum Holocaust. Im modernen deutschen Antisemitismus werden diese Spielarten des Antisemitismus miteinander vereint: Zum einen wird davon ausgegangen, dass die deutschen Verbrechen in gewisser Hinsicht aufgearbeitet worden sind. Es wird kein Schlussstrich gefordert, sondern angenommen, dass Deutschland bei der Aufarbeitung einen guten Job geleistet hätte und abgeschlossen sei. Zum anderen wird aus diesem neu erlangten stolzen deutschen Selbstverständnis heraus die Verantwortung für die Verhinderung ähnlich schlimmer Verbrechen wie der Holocaust generiert. Eine solche Relativierung des Holocaust dient der Verharmlosung der deutschen Verbrechen und wenn dabei angebliche Verbrechen Israels als Vergleich herhalten, werden aus den damaligen Opfern die heutigen Täter, die im Vergleich zu der »eigenen« vermeintlich gelungenen Aufarbeitung nichts aus der Vergangenheit gelernt hätten. Und so werden die Täter zu Opfern und die Opfer zu Tätern und man kann endlich wieder stolz auf Deutschland sein.

  1. Bergmann, W.; Erb, R. (1986). Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. In. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38, 2, S. 223 ff.

  2. Salzborn, S. (2014). Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie. Baden-Baden: Nomos, S. 30.

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